Sonntag, 18. Oktober 2009

Google wave - Das Netz hängt seine Nutzer ab

Wave ist großartig. Das Wunderwerkzeug von Google vereinigt Funktionen und Fähigkeiten, die für Arbeit wie Freizeitvergnügen unheimlich nützlich sein könnten. Trotzdem ist fraglich, ob es sich durchsetzen wird. Denn selbst Netz-Aficionados wird es mit Kommunikation und Information langsam zu viel.



Die knappste Ressource, die erwachsenen Menschen in der westlichen Welt zur Verfügung steht, ist in der Regel: Zeit.

Die gute Nachricht: Das Internet und seine ständig wachsenden Möglichkeiten sollten eigentlich dabei helfen, Zeit zu sparen. Schließlich wird Post jetzt mit Lichtgeschwindigkeit zugestellt, Informationen sind blitzschnell verfügbar.

Die schlechte Nachricht: De facto aber tut das Internet das gleiche wie jedes neue Informations- und Kommunikationsmedium seit Erfindung der Keilschrift - es nimmt mehr Zeit, Aufmerksamkeit und damit Energie in Anspruch, als es freisetzt.

Was nicht heißen soll, dass es nicht unglaublich nützlich ist. Aber so manchem, selbst den hartgesottensten Informations- und Kommunikationsjunkies unter uns, reicht es langsam.

Ein Morgen im Büro: Multikanal-Kommunikation, bis der Kopf raucht

Die Möglichkeiten, die das Netz bietet, sind in den vergangenen 15 Jahren exponentiell gewachsen. Wer beispielsweise aus dem Urlaub kommt, kann dem Bekannten im Büro am anderen Ende der Stadt - oder des Landes, des Kontinents, der Welt - morgens blitzschnell seine Ferienfotos zeigen: Über Flickr, über Facebook oder MySpace, über Picasa oder Evernote, als E-Mail-Anhang ...

* Parallel könnte er eine Instant-Messenger-Konversation über die Schönheiten von Mallorcas Norden führen.
* Und dabei auf ein YouTube-Video verweisen, das eine besonders halsbrecherische Fahrrad-Abfahrt aus den Bergen nach Sóller zeigt.
* Und über das kleine Fensterchen rechts unten im Browser-Eck noch schnell seinen 123 Twitter-Followern mitteilen, dass er wohlbehalten wieder da ist.
* Und dazwischen kurz die RSS-Feeds auf interessante neue Nachrichten oder Blog-Einträge checken.
* Und schnell noch googeln, wie dieses kleine Restaurant in Palma noch mal hieß, das er dem Kollegen für seinen nächsten Urlaub auf der Insel empfehlen wollte.
* Und ihm dann schnell den Link zur Website dieses Restaurants übermitteln - per E-Mail oder ICQ, AIM, Twitter, Facebook ...
* Und bei del.icio.us oder Mister Wong ein Lesezeichen dafür ablegen, für später mal.
* Und so weiter, während er ständig ängstlich darauf achtet, ob der Chef nicht hinter ihn tritt und feststellt, dass er da neben der eigentlich zu bearbeitenden Tabellenkalkulation auch noch ein paar andere Fenster offen hat auf dem Bildschirm.

Ein voll aufgerüsteter Web-Browser ist in Verbindung mit ein paar Zusatzwerkzeugen heute eine mächtige Kommunikations- und Informationszentrale, wahnsinnig praktisch - und gleichzeitig ein Aufmerksamkeits- und Produktivitätsfresser, der Henry Ford vermutlich die Zornesröte ins Gesicht getrieben hätte.

Sie sind gar nicht so? Willkommen im Mainstream

Ihr Alltag sieht gar nicht so aus wie oben beschrieben? Sie lesen nur ab und an eine E-Mail und vielleicht sind Sie mal kurz auf Facebook, wenn überhaupt, aber der ganze Rest kann Ihnen gestohlen bleiben?

Dann gehören Sie zur Mehrheit. Ihr Arbeitgeber kann sich glücklich schätzen.

Der jüngsten Online-Studie von ARD und ZDF zufolge etwa sind nur 34 Prozent der deutschen Netznutzer auch Mitglied eines privaten Social Networks wie Facebook, StudiVZ, MySpace oder Wer-kennt-Wen. Fotosammlungen wie Flickr oder Picasa nutzen nur 25 Prozent. Und Lesezeichensammlungen wie del.icio.us oder Mr. Wong nur vier Prozent.

Und das sind schon die Alteingesessenen unter den Web-2.0-Angeboten (siehe Kasten in der linken Spalte). Twitter (immerhin auch schon dreieinhalb Jahre alt!) hat in Deutschland einer aktuellen Erhebung zufolge 185.000 aktive Nutzer - bei knapp 44 Millionen Internetnutzern keine allzu eindrucksvolle Zahl.

Das WWW und seine Möglichkeiten wachsen in so atemberaubenden Tempo, dass es inzwischen selbst den habituellen early adopters zu viel wird. Das sieht man sehr schön an den Reaktionen auf Googles neuesten Streich, das Rundum-Kommunikations-und-Kollaborations-Wunderwerkzeug Wave. Wave, da sind sich die meisten einig, ist großartig - aber ob es jemals von einer breiteren Masse benutzt werden wird, scheint zumindest fraglich.

"Google Wave verbindet das Schlechteste von E-Mail und Instant Messaging"

Wave erlaubt, grob gesagt, all die oben beschriebenen Aktivitäten - Fotos hochladen, chatten, Videos vorführen, Notizen ablegen etc. und noch viel mehr. Gleichzeitig und in Echtzeit. Mit mehreren Teilnehmern. Jeder, der sich die entsprechende Wave gerade ansieht, kann live miterleben, wie die übrigen Anwesenden tippen (und sich vertippen). Eine Wave ist ein kollaborativ zu bearbeitendes Dokument mit eingebautem Bearbeitungsarchiv (sie lässt sich gewissermaßen zurückspulen, um die Entstehung Schritt für Schritt zurückverfolgen zu können), ein Multimedia-Dokument, das sich nicht nur speichern, kopieren und verschicken lässt, sondern auch auf anderen Web-Seiten einbinden. Mit sogenannten Bots und Gadgets lässt sich das Ganze zusätzlich aufbohren - man kann sich etwa die komplette Wave in Echtzeit ins Englische übersetzen lassen (wertvoll für internationale Zusammenarbeit) oder kleine Votings wie das hier in der linken Spalte einbinden. Mehr Wave-Funktionen zeigt die Bilderstrecke in der linken Spalte, eine humorige Einführung gibt das Bettel-Video unten.

Wave ist ein unglaublich mächtiges Werkzeug, seinem Mit-Schöpfer Lars Rasmussen zufolge die "moderne Version von E-Mail" - die Frage ist, wer es benutzen soll.

Seit vergangener Woche haben 100.000 Testnutzer die Möglichkeit, Wave zu testen. Gefühlte weitere 100.000 betteln seitdem über Twitter, Blogeinträge und andere Kanäle darum, ebenfalls eine Einladung zu bekommen. Für Buzz hat die Welle schon gesorgt, da gibt es keinen Zweifel. Dabei ist der Dienst zu Recht immer noch im geschlossenen Beta-Stadium, läuft instabil und bricht immer mal zusammen. Aber das ist nicht das Problem. Sondern, lauscht man den ersten Stimmen zum langerwarteten Super-Dienst, dass Wave einfach zu viel Aufmerksamkeit verschlingt.

"Springflutwarnung"

Selbst Hardcore-Geeks wie der Tech-Blogger, Twitter- und Facebookfanatiker Robert Scoble zeigten sich nach ersten Testläufen skeptisch. "Wenn die Leute anfangen, den Dienst zu benutzen, werden sie merken, dass er den größten Nachteil von E-Mail und Instant Messaging miteinander verbindet: Unproduktivität", schrieb Scoble. Louis Gray, Gründer eines sogenannten "Silicon Valley Blog für early adopters" schrieb: "Wave ist nichts als ein weiteres Postfach, das man regelmäßig überprüfen muss." Überschrieben ist der Eintrag mit "Google Wave trifft auf den Strand - Springflutwarnung". Selbst die härtesten aller Technophilen, so scheint es, haben den Punkt erreicht, an dem ihnen all die Kommunikations-, vulgo: Ablenkungsmöglichkeiten zu viel werden.

Der Prozess, der sich dank der sich permanent beschleunigenden Möglichkeiten des Netzes derzeit vollzieht, ist in der Menschheitsgeschichte bislang einzigartig: Die Entwicklung verläuft so schnell, dass selbst die early adopters nicht mehr nachkommen. Neue Werkzeuge können sich gar nicht so schnell durchsetzen, wie weitere aufgesetzt werden, die Vorangegangenes womöglich schon wieder überflüssig machen. Während ganz vorne, bei den hartgesottensten Alles-Ausprobierern, eine permanente Umwälzung im Gange ist, wartet die große Masse der Internetnutzer lieber in aller Ruhe ab - und verlässt sich weiterhin auf die 40 Jahre alte E-Mail als Basis-Werkzeug. Die Kluft wird täglich breiter: Zwischen denen, die wissen, was das Netz schon heute alles kann, die viele seiner Möglichkeiten sogar tatsächlich benutzen und jenen, denen es viel zu mühsam ist, sich ständig neue Technologien, Kommunikationsformen, Verhaltenskodizes anzueignen.

Es gibt allerdings einen Teil der Gesellschaft, in dem die Dinge anders liegen: Die Rangliste der von 14- bis 19-Jährigen mindestens selten genutzten Mitmachangebote sieht laut der ARD/ZDF-Online-Studie so aus:

* Wikipedia (94 Prozent)
* Videoportale (93 Prozent)
* Private Communitys (81 Prozent)
* Fotocommunitys (42 Prozent)

Diese Altersgruppe kommt übrigens fast komplett ohne Twitter aus - kommuniziert aber ohnehin schon von Kindesbeinen an in Echtzeit: Einer Erhebung des Branchenverbandes Bitkom aus dem Jahr 2009 zufolge nutzen 90 Prozent der 10- bis 17-Jährigen Messaging-Dienste und ähnliche Kommunikationsmöglichkeiten.

Im Vergleich zu diesen im digitalen Stahlbad gehärteten Multitasking-Experten sind die Mittdreißiger, die heute all die immer besseren Netz-Anwendungen erschaffen, müde alte Säcke. Diese jüngere Generation wird letztlich darüber entscheiden, was das Netz braucht - und was überflüssig, zu kompliziert, eben zu viel ist. Vielleicht werden diese Leute Wave benutzen. Oder das nächste oder übernächste große Ding.

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