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Sonntag, 16. November 2008

Film über Staatsgründer spaltet die Türkei

Kemal Atatürk als Lebemann und Trunkenbold: Zum 70. Todestag des Staatsgründers der Türkei zeigt ein Film die profanen Seiten des Übervaters - strenggläubige Kemalisten sehen darin eine Kampfansage und wittern ein ausländisches Komplott.


Istanbul - In der Türkei macht derzeit ein Film namens "Mustafa" Furore. Zu besichtigen ist das Seelenleben eines einsamen Kettenrauchers und Nationalhelden. Der Mann konsumiert pro Tag drei Schachteln Zigaretten, eine Flasche Raki und endlose Tassen Mokka, er ist recht melancholisch, aber er gewinnt einen Krieg, erschafft eine Republik und revolutioniert eine Gesellschaft.
Unerhört, dass ihm überhaupt jemand über die Schulter und in die Rakigläser sehen darf. Schließlich ist er derselbe, der im wahren Leben Geldscheine und Häuserwände schmückt, dem die Schulkinder jeden Morgen einen Eid schwören müssen und mit dessen Bild vor Augen sie jeden Abend unter die Decke schlüpfen: Mustafa Kemal Atatürk. Ihn zu lieben und zu fürchten ist erste Bürgerpflicht.

Dass es der bekannte Filmemacher Can Dündar im 70. Todesjahr Atatürks dennoch wagte, Schattenseiten im Leben des Übervaters zu zeigen – natürlich nicht ohne es an Bewunderung fehlen zu lassen – ist Neuland für die Türken. Bereits über eine halbe Million Zuschauer sollen "Mustafa" schon gesehen haben. "Nach diesem Film sieht man keine Atatürk-Statue mehr so wie an vorher", schwärmt eine Zuschauerin.
Kritiker sprechen von einem ausländischen Komplott
Doch für strenggläubige Kemalisten ist der Film eine Kampfansage. Sie rufen zum Boykott auf, wie Deniz Baykal, Chef der Oppositionspartei CHP oder Israfil Kumbasar, Kolumnist der ultranationalistischen Tageszeitung "Yeni Cag". Dündar bagatellisiere das Erbe Atatürks, so der Vorwurf. Den "Vater der Türken" könne man unmöglich als sinistren Trunkenbold und Lebemann darstellen. Besonders Hartgesottene wie der "Verein zur Pflege des Gedankenguts von Atatürk" vermuten hinter dem Streifen gar ein ausländisches Komplott, um die türkische Nation zu schwächen. "Die Kollaborateure des Imperialismus, die Anhänger der Scharia und die gespielten Republikaner versuchen seit Jahren Atatürk herabzuwürdigen und seine Revolution zu zerstören. Aber sie werden es nicht schaffen", heißt es in einem Schreiben der Vereinszentrale in Ankara an die Ortsverbände.
Da hilft es Dündar wenig, wenn er versichert, dass er den Film selber aus Zuneigung für Atatürk drehte. 15 Jahre lang wertete er Archivmaterial aus, um, wie er sagt, Mustafa einfach nur "als Mensch" darzustellen, "als vertrauliche Person", denn: "All diese Statuen, Büsten und Flaggen haben das Bild eines Führers ohne menschliche Eigenschaften geschaffen."
Damit aber begibt sich der Regisseur auf dünnes Eis, denn der Personenkult ist nicht nur von den Eliten gewollt. Er hat sogar Verfassungsrang. Laut dieser ist Atatürk der "unsterbliche Führer und unvergleichliche Held" der Türkei. In Paragraf 5816 wird die "Beleidigung Mustafa Kemals" unter Strafe gestellt.
Dass sich das 70. Todesjahr Atatürks aber auch anders begehen lässt – nämlich ganz nach dem Geschmack des "Vereins zur Pflege des Gedankenguts von Atatürk" – demonstrierte an diesem Montag der türkische Verteidigungsminister Vecdi Gönül. Bei einer Feierstunde in der türkischen Botschaft in Brüssel referierte er über die Geburtswehen des türkischen Staates und die damalige Vertreibung von Armeniern und Griechen. Ein "sehr wichtiger Schritt" sei das gewesen, so Gönül. Schließlich sei die heutige Türkei wohl kaum derselbe Nationalstaat, "wenn heute weiterhin an der Ägäis die Griechen und an vielen Orten der Türkei Armenier leben würden".
Verheerende Worte von Verteidigungsminister Gönül
Atatürks Erfolg habe nämlich darin bestanden, dass seine nationalistische Bewegung das Modell des Osmanischen Vielvölkerstaates abgelöst habe. Mit anderen Worten: Die Ausweisung, Deportation und Vernichtung der beiden Bevölkerungsgruppen von damals sei zu begrüßen.
Zwischen 1,5 und zwei Millionen anatolische Griechen mussten im Zuge des Bevölkerungsaustausches ihre Heimat verlassen, im Gegenzug kamen etwa eine halbe Million griechische Muslime in die Türkei. 1955 verließen noch einmal 100.000 Griechen ihre Heimatstadt Istanbul, nachdem es dort zu antigriechischen Pogromen gekommen war; ein Kapitel türkischer Geschichte, über das in der einst multikulturellen Metropole heute lieber geschwiegen wird.

Noch unwilliger befasst sich die türkische Geschichtsschreibung mit dem "Verschwinden" der Armenier. Sprechen armenische Quellen von 1,5 Millionen Armeniern, die im Ersten Weltkrieg bei Massakern und Todesmärschen ums Leben kamen, spricht die Türkei von Toten auf beiden Seiten, jedoch höchstens 300.000 armenischen Opfern.
Wie verheerend Gönüls Worte im Ausland klingen müssen – auch wenn sie im Einklang mit der kemalistischen Staatsdoktrin stehen – spürte der türkische Politikprofessor Baskin Oran: "Dadurch, dass die Armenier und Griechen aus Anatolien weggeschickt wurden, hat sich die Industrialisierung um mindestens 50 Jahre verzögert." Und sein Kollege Dogu Ergil legte nach: "Wenn die Bevölkerung des Osmanischen Reiches mit ihrer Multikulturalität und vielen Ethnien ihre Verlängerung in die Türkische Republik gefunden hätte, dann wären wir schon längst in der Europäischen Union. Um diesen Pluralismus regieren zu können, hätte sich eine pluralistische Demokratie entwickelt."

Am Dienstag korrigierte sich Gönül: Minderheiten in der Türkei wie Armenier und Griechen, sagte der Minister, seien für das Land eine Bereicherung.

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